Tatort Teufelsauge - Jan Flieger - E-Book (2023)

Impressum

Jan Flieger

Tatort Teufelsauge

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-487-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im MitteldeutschenVerlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbRGodernAlte Dorfstraße 2 b19065 PinnowTel.: 03860 505788E-Mail: [emailprotected]Internet: http://www.ddrautoren.de

Prolog

»Mein schauerndes Gebeindeckt kalter Schweiß. Was fürcht' ich denn? Mich selbst?«

Shakespeare, Richard derDritte

Regentropfen schlugen an die Scheiben des Ladas, dichter unddichter.

Der Mann am Lenkrad fröstelte. Das neben ihm sitzendeMädchen sah er nicht mehr an, und sein Hass auf sie schien zuzunehmen mit jedemMeter, den er weiterfuhr. Leer lag die Straße, die durch den Wald führte, vorund hinter ihm. Es war Mittag.

Der Mann drosselte das Tempo und blinkte, als er den Waldwegsah.

»Was«, fragte das Mädchen, »willst du am Teufelsauge?«

Der Mann schwieg. Die Gestalt, die ihm entgegenkam auf derStraße, dort, wo sie sich nach links krümmte, nahm er beim Einbiegen in denWaldweg nicht mehr wahr.

1. Teil

Der Schmerz

Er spürte den Schmerz in Wellen.

Und den Wellen folgte eine Leere in seinem Gehirn, die keineanderen Gedanken zuließ.

Hauptmann Kellermann griff nun doch zur Tablette, die ihmdie Zahnärztin gegeben hatte. Er musste den Schlussbericht in der MordsacheFlügel beenden! Er musste es heute tun, denn der Staatsanwalt wartete bereits.

Als er mit seiner Zunge vorsichtig die frische Wunde inseinem Kiefer berührte, hörte er in der Stille des Raumes nur seinen eigenenAtem.

Er presste die Zähne aufeinander und saß mit unbewegtemGesicht an seinem Schreibtisch, so wie ihn alle kannten in seiner Dienststelle,ihn, den stellvertretenden Leiter der Morduntersuchungskommission, diesenvierzigjährigen, eins sechsundachtzig großen und sehr schlanken Mann mit denlebhaften graublauen Augen in dem schmalen langen Gesicht, mit dem kurzgeschnittenen aschblonden Haar und dem immer korrekt sitzenden Binder.

Kellermann war froh, dass Fichtel, der ihm sonstgegenübersaß, nicht im Raum war. Der Schmerz bohrte im Kiefer weiter, wurde nurdumpfer. Ich werde, dachte er, wenn der Schmerz anhält, zu Bullesbach gehen undihn für heute um eine Beurlaubung bitten. Er hatte das Gefühl, die rechte Wangesei stark geschwollen und der Mund eine einzige Wunde.

Er griff zum Telefonhörer, ließ die Hand aber wieder sinkenund begann, ohne dass ihm bewusst wurde, was er tat, die Bleistifte und Kulisso zu ordnen, dass ihre Spitzen nebeneinanderlagen. Er liebte keine Unordnung,jede Büroklammer, jeder Bleistift, jeder Notizzettel hatte seinen Platz auf demSchreibtisch, konnte nur dort und nirgendwo anders liegen. Die gleiche Ordnungherrschte in den Fächern seines Schreibtisches und seiner Schränke. Er konntemit geschlossenen Augen nach einem Schriftstück greifen, das er suchte. Auchseine Uhr regulierte er immer so, dass sie auf die Sekunde genau ging. Ein Spaßvogelhatte ihm den Spitznamen »Preuße« gegeben und dabei wohl auch an KellermannsVornamen Fritz gedacht. Kellermann mochte keine Spitznamen und schon gar nicht diesen.Der Schmerz bohrte noch immer, er verging nicht.

Kellermann wusste, Bullesbach würde ihn gehen lassen, wenner ihn darum bat, da eine solche Bitte Ausnahme war. Kellermann konnte, und erhatte das oft genug bewiesen, achtzehn Stunden am Tag arbeiten, eine Woche langoder auch länger. Wenn es ein Fall erforderte, konnte er arbeiten, ohne spürbarmüde zu werden, und sein ganzes Denken, seine ganzen Empfindungen waren auf denFall gerichtet.

Erneut griff er zum Telefon, um Bullesbach anzurufen, abernoch ehe er wählen konnte, kam ein Anruf.

Es war Bullesbach.

»Einsatz, Fritz. Eine Tote in der Nähe von Kranek. An soeinem Tümpel, den die Leute hier das Teufelsauge nennen.«

Kellermann schnellte hoch, und mechanisch erfolgte beinahejede Bewegung: der Gang zum Panzerschrank, der Griff zum Halfter, die Kontrolleder Waffe. Der gleiche Anruf erreichte jetzt die anderen, die zum Fundort derLeiche fahren würden.

Kellermann verließ den Raum und betrat das ZimmerBullesbachs, ohne anzuklopfen. Bullesbach stand im grauen Mantel vor demSchreibtisch, ein Mann um die Fünfzig, mittelgroß und von massiger Gestalt, derauf dem Kopf nur noch einen Kranz von Haaren trug. Ein von ihm oft zitierterSatz lautete: Ein Kamel müsse vierzehn Tage auskommen ohne einen SchluckWasser, ein Kriminalist die gleiche Zeit ohne Schlaf. Nach diesem Grundsatzlebte Bullesbach. Schon immer.

Fuchs, der Kriminaltechniker, betrat hinter Kellermann denRaum.

»Los!«, sagte Bullesbach.

Ganz dumpf spürte Kellermann den Schmerz, als sie den Raumverließen.

Der Tatort

Der Wagen bog in einen Waldweg ein, fuhr an Polizistenvorbei und bog dann ab in einen anderen Weg, der völlig verschlammt war, sodasssie bis zu den Knöcheln versanken, als sie ausstiegen und zu Fuß weitergingen.

Vor ihnen lag der Tümpel. Er war nicht groß, voll schwarzenWassers. Kellermann verstand, warum er im Volksmund das Teufelsauge hieß.

An beiden Seiten des Tümpels standen hohe Buchen, doch anseinem Ende begann eine lange schmale Wiese, die wie eine Schneise wirkte.Eigentlich war es keine Wiese, sondern ein riesiges Brennnesselmeer.

Noch nie hatte Kellermann so viele Brennnesseln gesehen, siestanden wie ein schier undurchdringliches Dickicht, und der Wind bewegte sieleicht. In das Dickicht hinein führte ein schmaler Pfad.

Ein Funkwagenführer begrüßte sie, gab Bullesbach schnell undein wenig überhastet einen kurzen Bericht. Keine Zeugen also. Nur zwei Jungengab es, die diesen Pfad geschlagen und dabei im Brennnesselfeld die Toteentdeckt hatten.

Bullesbach nickte wortlos.

»Du kannst anfangen, Herbert«, sagte er zu Fuchs.

»Ihr habt sie also gefunden«, sagte Bullesbach dann zu demgrößeren der beiden Jungen, der sehr blond war und sie aus blauen Augen ohneFurcht musterte. Er mochte acht Jahre alt sein, höchstens neun, und war sehrkräftig gebaut.

»Ja«, sagte der Junge.

»Wir wollten eine Höhle bauen«, ergänzte der kleinere undblickte zu dem Kriminaltechniker, der seine Arbeit begonnen hatte.

Bullesbach watete durch die Brennnesseln, die neben dem Pfadstanden, und als er auf einen großen Stein trat, konnte er auf die Toteherabsehen, ohne Fuchs bei seiner Arbeit zu stören. Minutenlang standBullesbach reglos.

»Jetzt du, Fritz«, sagte er zu Kellermann und stieg vomStein herunter.

Nun trat Kellermann auf den Stein.

Die Tote trug Jeans, eine olivfarbene Studentenkutte und lagauf dem Rücken.

Kellermann sah in die offenen Augen der Toten, es warengroße Augen, dunkelbraun, beinahe schwarz.

Immer wieder überraschte es ihn, dass dem ersten Blick indie Augen von Toten ein kurzes Erschrecken folgte, das er aber nie einemKollegen eingestehen würde, selbst Bullesbach nicht, der ein Freund gewordenwar.

Diese Augen ...

Diese weit aufgerissenen, doch leeren Augen.

Die Augen, die als letztes in die des Gewaltverbrechersgestarrt hatten, schreckgeweitet, ehe sie starr wurden, ehe der Atem aussetzte,ehe das Dunkel kam.

Diese Augen ...

In der Stille, die nur durch ein leises Gemurmelunterbrochen wurde, vernahm Kellermann das Summen der Fliegen. Sie waren nichtzu verscheuchen, sie kamen immer aufs Neue zu der Toten zurück.

Einen Augenblick lang beobachtete Kellermann nur eine vonihnen, die über das Gesicht der Toten krabbelte. Das abstoßende Bild prägt sichihm ein, und er wusste, dass es zu denen gehören würde, die nie wieder ganzverschwinden. Es gab Gewaltverbrechen, deren Opfer er nicht vergessen konnte,auch wenn sie den Täter lange schon gefunden hatten. Und gewiss würde es beidieser Toten das gleiche sein.

Die Tote hatte die Figur seiner Tochter. Ein Schauerdurchrann ihn, und seine Lippen wurden noch schmaler.

Die Fliege lief noch immer über das Gesicht der Toten, eswar eine Fliege, die sehr grün schillerte, und sie schien Kellermann größer alsandere zu sein.

Warum dachte er jetzt, an diesem Ort, an seine Tochter?

Ein so junges Mädchen, dachte er voll Grauen. Lange hatte eskeinen solchen Fall mehr im Bezirk gegeben.

Er ging zu Bullesbach zurück, neben dem nun der Staatsanwaltstand, der Körner hieß, ein kleiner, grauhaariger Mann mit einer randlosenBrille, dessen Alter man schwer schätzen und mit dem man gut zusammenarbeitenkonnte.

Nun stand Bärlach, der Gerichtsmediziner, auf dem Stein.

»Das ist sie«, knurrte Bullesbach.

»Ja«, bestätigte Kellermann. »Heute bringt die Zeitung ihrFoto.«

Auch er hatte sofort, als er die Augen der Toten sah, anMarie Ampler gedacht.

Marie Ampler ...

Was wussten sie von diesem Mädchen?

Am 28. August war eine alte Frau im Revier in der Südstadterschienen, weil ihre Nichte die ganze Nacht lang weggeblieben war. IhreNichte, hatte sie dort angegeben, wohne bei ihr und besuche die Oberschule,arbeite aber zurzeit für vierzehn Tage in der Bücherei. Man rief daraufhinMaries Vater in Gera an. Er meinte, dass die Tante übertreibe. Man solleabwarten, denn am 31. August sei Marie gewiss zurück. Auch die Überprüfung derFreundinnen und Freunde ergab keine Spur, und als sogar die Fahndung nichtserbracht hatte, keinen Hinweis, obwohl die Personenbeschreibung der Vermisstenin Umlauf gegeben worden war, musste Bullesbach zum Leiter der K.

Bullesbach blickte finster, und er wirkte mit den Händen inden Taschen seines grauen Sommermantels wie ein Standbild. Auch Kellermannhielt die Hände am Tatort immer in den Taschen des Mantels oder der Jacke,seitdem einmal im Spurenprotokoll seine eigene Fingerspur mit aufgeführt und erdadurch die Zielscheibe des kameradschaftlichen Spottes geworden war.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit erwürgt«, sagte DoktorBärlach, der Gerichtsmediziner.

»Der Täter hat bestimmt nicht geglaubt, dass je einer diesesDickicht betritt«, bemerkte Bullesbach. »Es schien ihm ein sicheres Versteck zusein.«

Kellermann nickte.

Der verfluchte Regen, dachte er dabei. Tagelang Regen.

Jede Spur wird gelöscht sein, jede.

Einen Fingerabdruck?

Ein Haar, das uns reichen würde, um Geschlecht undBlutgruppe zu bestimmen?

Ein Hautpartikel?

Eine mikrokleine Blutmenge?

Oder Fasern von Kleidung?

Der Abdruck einer Sohle?

Aber der Regen hatte alles weggespült, und die beiden Jungenhatten mögliche Spuren am Tatort zerstört.

Bullesbach dachte wohl das gleiche. Er fluchte leise vorsich hin, er ahnte ebenso wie Kellermann, was ihnen bevorstand bei derAufklärung. Der Regen war ihr schlimmster Feind, dieser Regen, den Kellermann,soweit er sich erinnern konnte, in solch anhaltender Stärke jahrelang nichterlebt hatte.

»Keine Schleifspur«, sagte Fuchs, »aber niedergetreteneBrennnesseln, die nicht von den Jungen stammen, zeigen, dass der Täter aus derRichtung des Weges gekommen ist.«

»Dann hat er sie tot hierher getragen«, sagte Kellermann.

Bullesbach nickte.

Sie wussten beide von der Leiterin der Bibliothek, in derdie Tote in den Ferien gearbeitet hatte, dass Marie am 27. August gegen zwölfUhr den Anruf eines Mannes erhalten hatte und sich dann bei der Leiterin füreine Stunde hatte beurlauben lassen. Nur für eine Stunde, denn um dreizehn Uhrwar eine Aussprache mit ihr angesetzt gewesen, zu der sie hätte unbedingtzurück sein müssen. Also hatte sie den Mann gekannt und geglaubt, dass siepünktlich zurück sein würde. War dieser Mann der Täter?

Bullesbach schwieg. Er runzelte die Stirn.

»Die Obduktion wird uns Genaueres bringen«, sagte er.

Bullesbach blickte zu Boden.

»Fahr du zu ihrem Vater, Fritz«, bestimmte er dann.

Kellermann nickte wortlos. Immer wählte Bullesbach ihn ausfür solche Besuche.

Der Schmerz, der im Kiefer zu wühlen schien, hatte wiederstärker begonnen.

Der Vater

Auf der Straße nach Gera stöhnte Kellermann mehrmals auf,denn immer wieder, wenn er schneller fahren wollte, behinderten ihnGeschwindigkeitsbegrenzungen.

Er fluchte leise,als er in Gera ankam und auf die Uhr sah:einen ganzen Nachmittag würde ihn dieser Besuch kosten.

Das Werk fand er schnell, schon der erste Mann, den erfragte, beschrieb den Weg so genau, dass er nur zehn Minuten benötigte.

»Kollege Ampler hat eine Beratung«, sagte die Sekretärin.

»Ich habe angerufen«, antwortete Kellermann.

»Herr Kellermann?«, fragte die Frau.

»Ja«, erwiderte Kellermann.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Sie können Ihren Mantel in denSchrank hängen. Wir konnten die Beratung nicht mehr absetzen.«

»Danke«, sagte Kellermann. Er behielt den Mantel an. Er saßund wartete, während die Sekretärin wieder zu schreiben begann.

„Sagen Sie ihm bitte, dass ich da bin«, sagte Kellermann mitunbewegtem Gesicht.

Die Frau hob die Augenbrauen.

»Kollege Ampler wünscht bei einer Beratung nicht gestört zuwerden.«

»Dann machen Sie eine Ausnahme«, erwiderte Kellermann miteinem Blick auf die Uhr und sah stirnrunzelnd der Sekretärin nach, die diegepolsterte Tür öffnete und sie dann hinter sich schloss.

Eine Minute verging. Die Tür wurde aufgerissen und zweiMänner in weißen Kitteln gingen an Kellermann vorbei, denen ein dritter Mannfolgte, der Kellermann flüchtig ansah und grüßte.

»Bitte«, sagte die Sekretärin.

Kellermann betrat den Raum, in dem der Zigarettenrauch wieeine Wand zu stehen schien.

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte der kleine, untersetzte Mann,der Kellermann die Hand entgegenstreckte und unsicher lächelte.

»Haben Sie meine Tochter gefunden?«

Kellermann setzte sich schweigend.

»Es war nicht gut, sie zur Tante zu geben, wissen Sie«,sagte der Mann. »Die Tante kann sie wohl nicht zügeln.«

Er hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste.

»Aber auch wir, meine Frau und ich, haben es nicht gekonnt.Es ist meine zweite Frau, wissen Sie. Sie ist wesentlich jünger als MariesMutter. Marie hätte meine neue Ehe zerstört, wenn sie weiter mit uns gelebthätte ... Das wollte ich nicht.«

Kellermann schwieg noch immer.

»Es war ihr eigener Wunsch«, fuhr der Mann fort, »zur Tantezu ziehen. Sie hat uns lange bedrängt. Ich hatte viel Mühe mit der Umschulung.Sie werden verstehen, ich ...«

»Sie ist tot«, sagte Kellermann.

Die Augen des Vaters weiteten sich, und mit der rechten Handgriff er sich an den Binder.

»Wir haben sie heute gefunden«, sagte Kellermann. »Ich binsofort gekommen.«

»Tot?«, sagte der Mann leise.

Kellermann nickte.

Der Mann griff hastig zur Zigarettenschachtel, schob siewieder weg. Dann strich er sich mit der linken Hand über den Kopf, immerwieder.

»Das ist nicht wahr«, stammelte er.

»Doch«, sagte Kellermann. Das Wort klang hart, härter, alser es beabsichtigt hatte.

Kellermann wartete, er sagte nichts mehr.

Der Mann brauchte Minuten, um sich zu fassen, und als dasTelefon surrte, griff er nicht zum Hörer.

»Als wir Sie anriefen«, sagte Kellermann, »und Ihnenmitteilten, dass die Tante uns besucht hatte, weil Ihre Tochter nicht nachHause gekommen war, meinten Sie, es wären ja noch Ferien und am ersten Schultagsei sie zurück.«

»Ja«, sagte der Mann leise. »Wer denkt denn an so etwas ...«

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Kellermann.

»Alles, was Sie wollen«, antwortete der Mann müde, »alles...«

»Die Namen ihrer Freunde, ihrer Freundinnen, Herr Ampler.«

Der Mann begann zu stammeln.

»Ich habe mich nie um ihre Freundinnen ... und Freunde ...«

»Sie kennen sie nicht?«

»Nein, wie ... Wissen Sie, da fehlt mir einfach die Zeit.Und Marie war auch so kühl, so kalt nach dem Tode ihrer Mutter, so verschlossen.Meine zweite Frau und ich, wir haben uns alle Mühe gegeben, das können Sie unsglauben, aber verstanden haben wir sie nicht mehr. Sie war wie eine Fremde inunserem Hause. Sie kam und ging, wann sie wollte. Aber so sind sie alle indiesem Alter.«

»Nicht alle«, sagte Kellermann.

Der Mann saß mit gesenktem Kopf.

»Ich könnte nicht einen Namen nennen ... Sie war in Bansinin unserem Bungalow im Mai. In der Ferienwoche, wissen Sie, zusammen mit einerFreundin. Aber den Namen ...«

»Sie wissen nicht, wie die Freundin heißt?«

»Nein. Wir wollten drei Tage später nachkommen. Aber dannwurde mein Sohn krank. Wir haben noch einen kleinen Jungen bekommen, wissen Sie... Marie ist direkt von ihrer Tante aus an die See gefahren. Nein, sie istgetrampt, obwohl ich es ihr verboten hatte. Das ist für sie ein Sport, einAbenteuer ... Sie ...«

»Hat sie einen festen Freund?«, fragte Kellermann.

»Sie hat nie einen Jungen mitgebracht. Aber sie hatte keinenfesten Freund. Ich glaube, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Sie sagteimmer über die Jungen ihres Alters, dass sie nur Hohlköpfe wären und Schwätzer.Ihre eigenen Worte, wissen Sie. Sie wollte einen gestandenen Mann.«

»Einen gestandenen Mann?«, wiederholte Kellermann fragend.

»Er sollte schon etwas erreicht haben. Sie ging auch nie indie Disco. Kinder, sagte sie, sind dort. Sie wirkte wie zwanzig.«

Der Mann blickte kurz hoch, aber senkte den Kopf wieder.

»Wie wenig weiß man eigentlich über ... über die eigeneTochter. Man lebt nebeneinanderher.«

Der Mann presste die geballten Fäuste vor die Augen, undseine Schultern zuckten. Als er den Kopf hob und seine Hände auf den Knienlagen, waren die Augen rot gerändert.

»Aber wer tut so etwas?«

»Sie müssen nachdenken«, sagte Kellermann. »Der kleinsteHinweis kann uns weiterhelfen.«

Der Mann schüttelte hilflos den Kopf.

»Der Tod der Mutter hat einen anderen Menschen aus ihrgemacht, einen fremden. Glauben Sie mir, ich habe mir Mühe gegeben, besondersdann, als meine zweite Frau kam. Wir haben ihr beide immer wieder die Handgereicht, aber sie blieb unzugänglich.«

Der Mann zitterte erneut.

»Wie ein Stein ...«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich kannIhnen gar nichts sagen. Ich ... Mit dieser Jugend komme ich nicht klar ...«

»Rufen Sie mich an«, unterbrach ihn Kellermann und schriebseine Telefonnummer auf ein Blatt, das er aus seinem Notizblock riss.

Er ergänzte die Telefonnummer durch eine weitere. »Meineprivate«, sagte er. »Sie können anrufen, wann immer Sie wollen. Lassen Sie sichdurch keine Uhrzeit schrecken. Wenn es um einen Mord geht, sind wir im Dienst,rund um die Uhr. Immer.«

Der Mann presste die Handflächen an die Schläfen. »Ich binder Vater und kann Ihnen nicht helfen, ich ...«

»Sie müssen«, entgegnete Kellermann. »Jeder Brief kann eineSpur sein, jedes Foto. Kann ich Maries Zimmer sehen?«

»Aber ja«, sagte der Mann hastig. »Wir können sofortfahren.«

»Danke«, sagte Kellermann.

Der Mann erhob sich.

»Kommen Sie bitte, Herr ...«

Kellermann nannte seinen Familiennamen.

»Herr Kellermann«, murmelte der Mann. »Maries Zimmer bewohntjetzt mein Sohn. Aber ihre Sachen sind noch drin, weil sie manchmal kam.«

»Hm«, brummte Kellermann und ertappte sich erneut dabei,dass er eine Angewohnheit Bullesbachs annahm. Es war ein kleines Zimmer miteinem großen Fenster, unter dem ein blaues Kinderbett stand. Eingerichtet warder Raum mit den Teilen einer Schrankwand, die alle Wände des Raumesverdeckten. Es waren helle Möbel mit vielen Fächern, und die Fächer warengefüllt mit Spielzeug.

Über der Tür hingen zwei Bilder von Gauguin, die Kellermannkannte, weil auch er den Maler mochte. Neben dem Fenster sah er einen kleinenSchreibtisch.

Kellermann entdeckte in einem Fach des Schreibtisches, alser ihn durchsuchte, ein Fotoalbum.

»Darf ich?«

Der Mann nickte. »Sehen Sie sich alles an.«

Aber Kellermann durchforschte zunächst alle Fächer desSchreibtisches, ehe er seine Aufmerksamkeit dem Album schenkte.

Er untersuchte Fach für Fach, doch er fand kein Tagebuch,wie er gehofft hatte, keinen Brief.

Dann blätterte er in dem Fotoalbum, sah Kinderbilder MarieAmplers, dann Bilder als Pionier und als junges Mädchen. Aber er entdecktekeinen Freund. Nichts deutete hin auf einen Freund ...

Die Tante

»Nichts«, knurrte Bullesbach, als Kellermann sich aus Gerazurückmeldete. »Es gibt keinen Zeugen, Fritz. Aber es gibt Abdrücke vonHandschuhen im Zimmer des Mädchens.«

»Was?«, entfuhr es Kellermann.

»Ja«, knurrte Bullesbach. »Offenbar wurde vom Täterversucht, jede Fingerspur zu verwischen. Dazu trug er Handschuhe. Er muss etwasgesucht haben. Dann haben wir noch die Fingerspuren der Tante und die von MarieAmpler im Spurenprotokoll.«

»Und diese Tante?«

»Sie weiß nichts. Fichtel war bei ihr. Und wie steht es beidir, Fritz?«

Kellermann gab einen kurzen Bericht.

»Ich möchte mir ihr Zimmer ansehen«, sagte Kellermann. »Wirddas möglich sein? Sind die Techniker endgültig raus?«

Bullesbach nickte. »Sieh es dir an«, sagte er.

Als Kellermann hinaufstieg in den vierten Stock zur Wohnungder Tante Marie Amplers, folgte er nur seinem Instinkt. Man konnte einen Zeugenbefragen, so, wie es Fichtel getan hatte, der versicherte, sie sei nicht ganzrichtig im Kopf. Es konnte sein, dass sich nichts Neues ergab. Es war aber auchmöglich, dass eine Nuance, die anders war als bei der ersten Befragung, dieUntersuchung weiterbrachte.

Vielleicht ging er deshalb selbst zu der alten Frau, dieKitzbach hieß. Emma Luise Monika Kitzbach. So verstaubt ist ihr Gehirn wie ihreWohnung, hatte Fichtel gesagt. Aber Fichtel war manchmal sehr schnell in seinemUrteil, ein Heißsporn, den man zügeln musste. Doch er war gut in der Arbeit,und wenn Kellermann einen Täter zusammen mit Fichtel verhörte, wurde esgefährlich für einen solchen Mann.

Kellermann stand vor der Wohnungstür.

»Kitzbach« las er auf dem großen blank geputztenMessingschild, »Adolf Kitzbach«.

Dieser Adolf, das wusste er, war vor zehn Jahren nach einerOperation der Prostata gestorben.

Unter dem Schild »Kitzbach« war ein kleines angebracht, aufdem der Name »Ampler« stand.

Das war eigentlich normal. Wer hätte das Schild sofort nachdem Bekanntwerden des Todes der Besitzerin des Namens abnehmen sollen? Trotzdemergriff Kellermann ein eigenartiges Gefühl, als er den Namen las.

Er drückte auf den Klingelknopf.

Kellermann wies sich aus, als die Frau öffnete, einezierliche Frau, die wohl dadurch noch gebrechlicher wirkte.

»Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen«, sagteKellermann. »Ich ...«

Er sprach nicht weiter, weil er befürchtete, dass die Frauweinen würde.

»Es ist furchtbar«, sagte die Frau.

»Ja«, antwortete Kellermann.

Sie standen sich auf dem Flur der Wohnung gegenüber, aberdie Frau schien ihn nicht weiter in ihr Wohnzimmer bitten zu wollen.

»Wir haben eine schwere Ermittlung vor uns«, sagteKellermann. »Und Sie wollen uns doch helfen?«

Die Frau nickte. »Ich bin eine alte Frau.«

Sie schüttelte den Kopf, immer wieder.

»Ich kann es nicht fassen. Sie hatte keinen Freund, siemochte überhaupt keine Männer. Sie hat immer gelesen. Manchmal hat sie sichnoch abends ein Buch von einer Freundin geholt.«

»Kein Mann?«, fragte Kellermann.

»Wie bitte?«, fragt die Frau. »Ach so, nein, sie hat nie voneinem Mann gesprochen. Und hier war auch keiner. Es ist gut, wenn sich einjunges Mädchen Zeit lässt.«

»Auch in den letzten drei Monaten haben Sie nichtsbeobachtet?«, fragte Kellermann.

»Nein«, sagte die Frau.

Sie trug die grauen Haare streng zurückgebunden zu einemKnoten. Ihre grauen müden Augen musterten Kellermann.

»Ich brühe Ihnen einen Kaffee«, sagte sie.

»Machen Sie sich keine Umstände«, erwiderte Kellermann. »Ichhabe gerade einen getrunken.«

»Ja, ja«, sagte Frau Kitzbach. »Wenn Sie wollen, können Siein das Zimmer gehen, wo sie gewohnt hat. Es ist das Zimmer neben dem Bad. Ichleg' mich wieder hin. Das Herz, wissen Sie ...«

»Danke«, sagte Kellermann.

Es war kein sehr großes Zimmer. Kellermann überflog es mitwachen Augen, so, wie er es immer tat, wenn er einen Tatort musterte undschnell das Wichtigste erfassen wollte.

Das erste, was ihm auffiel, war an der Wand neben demFenster ein großes brauner Bilderrahmen, der aber kein Bild enthielt, sondern,sicher mit Stecknadeln angeheftet, auf einer hellbraunen Stoffunterlageverschiedene Fotos. Sie waren nicht geordnet angebracht, sondern anscheinendnur so, wie sie die Besitzerin erworben hatte. Kellermann trat an diese»Wandzeitung«, wie Fichtel den Bilderrahmen und seinen Inhalt genannt hatte.

Ein farbiges Foto zeigte Marie Ampler zusammen mit einemanderen Mädchen auf einer Straße. Sie hielt ein Schild vor ihre Brust, auf dem»Stralsund« stand. Offenbar war das Foto aufgenommen worden beim Trampen.

Marie Ampler lachte und auch das andere Mädchen. Beidetrugen die Jeans hauteng und die Haare sehr kurz.

Zwei Ansichtskarten sah man noch, eine aus einem Badeort ander See, von einer Karin unterschrieben. Es gab, wie schon Fichtel gesagthatte, außer den Abdrücken keinen Hinweis auf einen Mann in ihrem Zimmer. Nichteinen. Aufgezweckt war noch die Ansicht eines Zimmers, offenbar ausgeschnittenaus einer Wohnungszeitschrift, und das Zeitungsfoto eines Babys.

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Author: Gregorio Kreiger

Last Updated: 10/05/2023

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Name: Gregorio Kreiger

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